Lieblosigkeit macht krank – Entwicklung macht frei
Allzu oft wird Liebe heute mit Sexualität, mit bedingter Liebe oder mit Verliebtsein gleichgesetzt. Lieblosigkeit, die Gerald Hüther in seinem aktuellen Buch meint, macht sich dadurch bemerkbar, dass das Gesundbleiben eine nicht ganz so einfache Sache in der Leistungsgesellschaft wird, wenn Lieblosigkeit Alltag im Leben der Menschen ist. Liebevoller Umgang gehört nicht nur in ein familiäres Leben oder zum Alltag in Freundschaften, liebevoller Umgang macht jedes Leben gesünder – auch das von Führungskräften, Unternehmerinnen und Mitarbeitern in kleinen und großen Unternehmen.
Die Arbeitspsychologie fordert seit Jahrzehnten, dass die Arbeitsbedingungen und die Organisation in Unternehmen so gestaltet sind, dass sich alle Menschen, übrigens auch die Inhaber und Geschäftsführerinnen von Unternehmen selbst, weiterentwickeln können; eben nicht nur die bloße Anpassung an die neuen Bedingungen schaffen, sondern sich bewusst in (persönlicher) Entwicklung gestalten. Ein Hinweis, dass dies oft nicht gelingt, kann die steigende Anzahl von Fehltagen aufgrund psychischer Ursachen sein. Dieser Trend hält seit mindestens 20 Jahren an und ist weiterhin ungebrochen.
Es bleibt zu vermuten, dass lebensgestaltende Entwicklung keinesfalls eine reine Privatangelegenheit ist und sein kann, sondern als gesellschaftliche Herausforderung im Raum steht, die nicht weiter ignoriert werden darf. Schon vor geraumer Zeit habe ich an dieser Stelle auf die Notwendigkeit lebensfreundlicher Unternehmen hingewiesen, Familienfreundlichkeit allein genügt heute nicht mehr. Hüther schreibt dazu:
Weiterentwicklung ist ja etwas völlig anderes als die bloße fortwährende Anpassung an die jeweiligen von uns selbst geschaffenen Verhältnisse. Ent-Wicklung bedeutet ja genau das Gegenteil: nämlich die Selbstbefreiung aus all den Ver-Wicklungen, in die wir durch unsere bisherigen Vorstellungen geraten sind. Diese Verwicklungen sind es, die uns krank machen.Gerald Hüther, Lieblosigkeit macht krank, Herder Verlag, Freiburg 2021, Seite 10, f.
Das Problem an der Sache ist, dass viele sich im Alltagsstress der Anpassung (oder auch der kleinen Entwicklung) verlaufen und diesen schlicht mit dem „großen“ Weg der persönlichen Weiterentwicklung verwechseln. Dies wird nicht selten mit dem Argument der Ferne von Theorie und Praxis vom Tisch gewischt.
Wohltuend ist, in Hüthers neuem Buch sinngemäß von der großen Bedeutung gelingenden Erlebens zu lesen. Herausforderungen annehmen und diese selbst gegen Schwierigkeiten meistern, prägt letztlich die Motivation weiterzumachen – weiterzuleben – weiterzulernen.
Nicht die Angst, sondern das Erleben, eine bedrohliche Situation gemeistert zu haben, führt zur Aktivierung des sogenannten Belohnungszentrums und damit zur Freisetzung von Botenstoffen und Wachstumshormonen, die das Auswachsen neuer Fortsätze und das Knüpfen neuer Nervenzellkontakte stimulieren.Gerald Hüther, Lieblosigkeit macht krank, Herder Verlag, Freiburg 2021, Seite 85, f.
Selbstwirksamkeitserleben, auch in kleinen Schritten, stärkt immer die eigene Person. Ein liebevoller Umgang, mindestens mit sich selbst, unterstützt diese Lernprozesse besonders stark.
Hauptüberschriften aus dem Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Irren ist menschlich
- Was hält uns gesund?
- Was macht uns krankt?
- Wie funktioniert Selbstheilung?
- Was schwächt unsere Selbstheilungskräfte?
- Was stärkt unsere Selbstheilungskräfte?
- Wie kann eine gesundmachende Veränderung gelingen?
- Wie reagieren unser Gehirn und unser Körper auf Lieblosigkeit?
- Wie lange lässt sich eine liebevolle Beziehung zu sich selbst unterdrücken?
- Wie können wir unser Zusammenleben liebevoller gestalten?
- Es ist nie zu spät, um wieder gesund zu werden
- Ausleitung: Wohlan denn, Herz nimm
- Abschied und gesunde
Bibliografische Angaben
- Titel: Lieblosigkeit macht krank
- Untertitel: Was unsere Selbstheilungskräfte stärkt und wie wir endlich gesünder und glücklicher werden
- Autor: Gerald Hüther
- Hardcover: 176 Seiten
- Verlag: Verlag Herder GmbH, Freiburg, 1. Auflage 2021
- ISBN-13:978-3-451-60099-9
- Preis (D): 18,00 Euro
Offen sein, die (seine) Welt ganz neu zu betrachten
Wer ein wenig weiter, als bis zur Hälfte des Buches liest, der dringt zum Kern des Buches oder der Kernbotschaft von Gerald Hüther vor. Es ist eines der interessantesten Unterfangen, aus Betroffenheit, aus lebenslanger Erfahrung, aus der gelernten Verletzung oder vielleicht sogar aus Resignation und Abstumfung heraus, seine täglich gelebte Welt ganz frisch, ganz neu oder wie der Autor es ausdrückt, „mit anderen Augen“ zu sehen.
Es müsste für die betreffende Person zu einem Bedürfnis werden, die Welt noch einmal mit anderen Augen zu betrachten.Gerald Hüther, Lieblosigkeit macht krank, Herder Verlag, Freiburg 2021, Seite 103, f.
Wie merkwürdig mutet in diesem Zusammenhang die Tatsache an, dass es vielen Menschen nicht gelingt, ihre Welt aus neuer Perspektive zu betrachten. Nicht anders kann man es jedenfalls verstehen, wenn zu Ostern 2021 tausende Deutsche, trotz massiv steigender Coronafallzahlen, das Fest lieber auf einer Mittelmeerinsel verbringen, als in ihrer gewohnten, offensichtlich sattgesehenen Welt. Hier kann man nur freudig auf den Trend des Waldbadens verweisen, der nicht nur zum neuen Sehen, sondern auch zum neuen Fühlen, Riechen oder Hören begeistern will.
Nichts mehr tun, was mir selbst nicht gut tut?
Hüther schlägt auf Seite 113 sinngemäß zwei einfache Wege vor, um Entwicklung, wie wir sie hier meinen, zu ermöglichen. Erstens ab sofort „etwas liebevoller mit sich selbst umzugehen“ und zweitens nichts mehr zu tun, was einem „selbst nicht guttut“. Nach meiner jahrzehntelangen Erfahrung im Coaching von Führungskräften und Unternehmer:innen ist das ein frommer Wunsch. Es genügt nicht, „etwas liebevoller“ zu sein. Diese kleine, oder zu kleine, Veränderung würde im Alltag der meisten Menschen, und im Leistungsalltag noch viel mehr, freudig und genüsslich vom Schweinehund Namens Gewohnheit vertilgt. Auch der Hinweis, alles zu unterlassen, was einem nicht guttut, überdeckt die Tatsache, dass wir so kaum noch Herausforderungen annehmen, die möglicherweise den Geschmack des Schmerzes mitbringen. An dieser Stelle braucht es auf jeden Fall die Möglichkeit, den persönlichen Veränderungswiderstand von „nicht gut tun“ zu differenzieren.
Aber, eine Tatsache lässt sich auf jeden Fall feststellen, immer weniger Menschen sind es heute und werden zukünftig bereit sein, einer Arbeit unter den Bedingungen nachzugehen, wie Byung-Chul Han sie beschreibt.
Das Leistungssubjekt tut sich selbst Gewalt an. Es beutet sich selbst freiwillig aus, bis es zusammenbricht. Der Knecht nimmt dem Herren die Peitsche aus der Hand und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, ja frei zu sein.Byung-Chul Han, Palliativgesellschaft, Matthes & Seitz Berlin, 2020, Seite 40
Warum Sie dieses Buch lesen sollten – liebevoll ganz authentisch sein
Wenn es also einen gewichtigen Grund gibt dieses Buch aufzusaugen, dann mindestens den, den wichtigen Impuls zur richtigen Zeit zu bekommen. Lieblosigkeit und liebloser Umgang, auch im Arbeitsleben, gehören in die Historienkammer verbannt! Einmal abgesehen davon, dass ich persönlich der Meinung bin, jedes Buch von Gerald Hüther empfehlen zu können, ist der zweite Grund der Hinweis, den Fokus auf Authentizität zu legen. Der Begriff hat sich in den letzten Jahren abgenutzt, aber nur medial. Wirklich mit seinem So-Sein auf du und du zu leben, ist nur ein Weg zum Glück.
Dieses zutiefst menschliche Bedürfnis ist keine Modeerscheinung, und auch in Literatur und Philosophie schon immer beschrieben worden; sehr treffend hat das Ernst Bloch vor 67 Jahren im ersten Band seines Hauptwerkes beschrieben:
Der Mensch will endlich als er selber in das Jetzt und Hier, will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben.Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Aufbau-Verlag Berlin, 1954, Band I, Seite 14
Aus- und Lichtblick
Es klingt nicht so recht greifbar, aber dieses Grundgefühl, dass es wieder gut wird, scheint die stärkste Vertrauensressource zur Bewältigung der Angst zu sein, …Gerald Hüther, Lieblosigkeit macht krank, Herder Verlag, Freiburg 2021, Seite 95, f.
Das Vertrauen in den Prozess, des Lebens, des Lernens, des Wandels oder der Veränderung – eben der Entwicklung – dieses Vertrauen wirkt noch besser mit einer großen Portion liebevollen Umgangs, mit sich selbst und natürlich anderen. Entwicklung ist immer ergebnisoffen, das lässt zwar auch manchen Abzweig in eine Sackgasse zu, aber auch oft genug viele Wege voller Chancen und bisher nicht als Potenziale erkannte Ressourcen. Insofern ist es durchaus berechtigt, den Titel „Lieblosigkeit macht krankt“ um den Zusatz „und Entwicklung macht frei“ zu ergänzen.
Entwicklung macht gesund – Lieblosigkeit krank!
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